Plüschiger Weihnachtstrip

© von Heike Greiner 

Heiligabend in einem kleinen, beschaulichen Ort im Fichtelgebirge. Die weihnachtlich-beleuchteten Straßen sind wie leer gefegt, da die Bürger entweder gerade am Weihnachtsgottesdienst teilnehmen oder sich bereits zu Hause auf die Bescherung vorbereiten. Dicke Schneeflocken tanzen vom Himmel, während ein kalter Ostwind bläst und die kleinen Eiskristalle wild durcheinanderwirbelt, bevor sie zu Boden fallen. Kein Wetter, um sich länger im Freien aufzuhalten. Friedvolle Stille liegt über den Häusern, deren Fenster mit zahlreichen Lichterketten und Lichterbögen die finstere Nacht erhellen. 
Doch die Stille trügt. Hinter den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern des Spiel- und Schreibwarenladens sind seltsame Geräusche zu vernehmen: Es murmelt, wispert, plappert, flattert und trappelt. Sämtliche Plüschtiere sind auf den Beinen beziehungsweise auf den Flügeln, laufen oder fliegen durch den Laden, hierhin und dorthin, und reden wild durcheinander. Normalerweise sitzen die flauschigen Gesellen still und unschuldig in einem Regal und warten darauf, dass sie bei einem lieben Kind ein schönes Zuhause finden. Welch ein Gewusel! Teddybär, Hund, Katze, Löwe, Eule, Pferdchen, Waschbär, Küken, Schimpanse, Fuchs, Esel und noch viele mehr. Der Laden ist nur spärlich beleuchtet, einzig eine kleine Stehlampe auf dem Verkaufstisch sorgt für einen warmen Lichtschein. Mitten auf dem Ladentisch sitzt ein Plüsch-Weihnachtsmann, ganz typisch mit roter Mütze, langem weißem Bart und dicken Stiefeln, und zieht alle Blicke auf sich. Links neben ihm steht ein großer Karton, in dem sich viele bunte Eier befinden. Auf der rechten Seite ein Farbkasten mit Pinseln unterschiedlichster Größe.
„Gustl!“, ruft der Schimpanse vom anderen Ende des Ladens ihm zu und springt geschickt von Vitrine zu Vitrine, schwingt sich über eine Bücherkiste, bevor er neben dem Weihnachtsmann auf dem Ladentisch landet. „Gustl, was machst du denn da? Gleich holt uns das Christkind ab. Das weißt du doch. Wir dürfen heuer mit dem Christkind auf dem Schlitten mitfahren und die Geschenke verteilen. Obwohl wir Plüschis eigentlich selbst als Geschenk unterm Weihnachtsbaum liegen sollten.“ 
„Stimmt! Die Fahrt mit dem Christkind ist eine Entschädigung dafür, dass wir Ladenhüter geblieben sind“, mischt sich die weiße Eule ein, fliegt eine Runde, um sich dann auf der Kasse neben Gustl niederzulassen. „Wenigstens kommen wir so auch mal raus aus diesem Laden hier.“ 
„Ist mir egal. Ich mag kein Weihnachten“, grummelt Gustl, während er gerade hingebungsvoll ein Ei mit einem kleinen rosafarbenen Häschen bemalt. 
„Und deshalb bemalst du Eier? Weil du Weihnachten nicht magst?“ Der Schimpanse kratzt sich mit seinen langen Armen am Kopf und schaut den Weihnachtsmann an, als ob der nicht alle Nadeln am Baum hätte. 
„Genau! Ostern finde ich viel schöner als Weihnachten. Deshalb kümmere ich mich um das Bemalen der Ostereier … Ja, guck nicht so“, fügt er hinzu, als der Schimpanse ihn immer noch ungläubig anstarrt. „Die Arbeit muss auch gemacht werden.“ 

„Klar, aber doch nicht an Weihnachten, Gustl.“
„Hui, seht … seht mal, was … hui, was ich im Lager gefunden habe“, ertönt eine piepsende Stimme. Das orangefarbene Plüsch-Küken zerrt eine Flasche mit einer dunkelroten Flüssigkeit hinter sich her. „Schmeckt leeeecker, der Trau… Trau… Trausen… Traubensaft … hicks.“ 
Hoch erhobenen Hauptes stolziert der Fuchs auf das torkelnde Küken zu und nimmt ihm die Flasche ab. „Das ist kein Traubensaft, sondern Glühwein mit mindestens zehn Prozent Alkohol. Und du weißt genau, dass du keinen Alkohol verträgst, Küki.“ Er stupst das Küken leicht an, worauf es zunächst schwankt und dann einfach umkippt.
„Och, Fuchsi, du … du bist immer so … sau … slau … schlau … Schmeckt aber … hicks … der Saft.“ Mitten im Satz fallen dem Küken die Augen zu, so beschwipst ist es. Kopfschüttelnd schiebt der Fuchs die angetrunkene Flasche unter den Ladentisch. 
„Pssst, seid ruhig, Ruhe!“, warnt der Waschbär, der an der Tür steht, um nach dem Christkind Ausschau zu halten. Schlagartig ist es mucksmäuschenstill. Vor dem großen Schaufenster stehen zwei Personen und betrachten die Auslagen.
„Was guckst du denn?“, vernehmen die Plüschis die Stimme eines Mannes. „Lass uns weitergehen, es ist kalt und meine Eltern warten schon mit dem Essen.“
„Hast du das nicht gehört?“, fragt ihn seine Begleiterin, ohne den Blick vom Schaufenster abzuwenden.
„Was soll ich gehört haben?“
„Aus dem Geschäft kommen seltsame Geräusche.“
„Was denn für Geräusche? Ich höre nichts.“
„Hicks!“, gibt das schlafende Küken plötzlich von sich. „Hicks!“
„Da!“ Die Frau drückt ihre Nase gegen die Fensterscheibe. „Wieder ein ganz komisches Geräusch.“
„Ach, Unsinn, da ist nichts. Los, komm.“
„Brennt ganz hinten im Laden nicht irgendein Licht? Vielleicht die Taschenlampe eines Einbrechers?“
Genervt verdreht der Mann die Augen. „Das Geschäft ist geschlossen und bis auf die Weihnachtsbeleuchtung ist alles dunkel. Einbrecher?! Du schaust zu viele Krimis. Vielleicht siehst du einen Lichtreflex von irgendeinem Lichterbogen. Was weiß ich. Ist doch egal. Wenn du jetzt nicht mitkommst, geh ich schon mal allein zu meinen Eltern.“ Der Mann zieht seine Mütze tiefer in die Stirn und entfernt sich.
„Ist ja schon gut. Ich komme!“ Die Frau wirft noch einen letzten Blick ins Schaufenster und folgt ihm.
„Das war knapp“, flüstert der Waschbär. „Hoffentlich kommt das Christkind mit dem Schlitten bald.“
„Nee, noch nicht. Bin noch nicht ganz fertig mit dem Eiermalen.“ Gustl holt das letzte unbemalte Ei hervor.
„Lass doch die Eier, Gustl, die braucht jetzt wirklich niemand. Und dann auch noch Plastikeier. Du hättest wegen des Umweltschutzes wenigstens echte nehmen können.“ Die Eule, die an Harry Potters Schneeeule Hedwig erinnert, versucht mit ihrem Schnabel, dem Weihnachtsmann das Ei wegzunehmen. Gustl weicht dem Eulenschnabel geschickt aus. „Echte Eier bleiben doch bis Ostern nicht frisch.“
„Puh, ich geb’s auf“, stöhnt die Eule.
„Das Christkind kommt!“, ruft der Waschbär. Im Nu sind alle Plüschtiere des Spiel- und Schreibwarengeschäftes bereit, um sich auf dem großen Schlitten, der direkt vor dem Eingang hält, zwischen den vielen bunten Paketen zu platzieren.
„Das wird ein Spaß“, jauchzt der flauschige Plüsch-Esel und wackelt mit seinen langen Ohren. „Eine Fahrt mit dem Weihnachtsschlitten! Iiaah!“
„Wartet! Ich will auch mit!“ Gustl knipst die Stehlampe aus, wirft seine Malutensilien in den Karton und verstaut ihn in der hintersten Ecke eines Regals. Er bemerkt nicht, wie das halb bemalte Ei auf den Boden unter dem Ladentisch fällt. „He, ich will mit!“
A
ls letzter Plüsch-Passagier klettert er auf den Schlitten.
„Ich dachte, du magst Weihnachten nicht“, lacht der dicke Teddy.
„Ach“, murmelt Gustl, „die Schlittenfahrt lass ich mir doch nicht entgehen.“
Sogar das beschwipste Küken ist inzwischen wieder wach und sitzt glücklich vor sich hin grinsend neben dem Christkind.
Es folgt eine rasante Schlittenfahrt durch den Ort, bis das Christkind – dieses Jahr gemeinsam mit plüschigen Helfern – die Geschenke verteilt hat. 
Nach Weihnachten kommt der Chef des Spiel- und Schreibwarengeschäftes in den Verkaufsraum – alle Plüschtiere sitzen wieder auf ihren Plätzen im Regal. Still und unschuldig, als wäre nichts gewesen. Der Chef tritt an den Ladentisch heran und stößt dabei mit seinem Fuß an einen Gegenstand. Er bückt sich, um gleich darauf eine halb leere Glühweinflasche und ein unfertig bemaltes Plastikei in den Händen zu halten. Verdutzt starrt er auf die beiden Dinge. Als er auch noch ein leises „Hicks“ hinter sich hört, beschließt er, nächstes Weihnachten etwas weniger Glühwein zu trinken. Nachdenklich geht er zur Eingangstür und schließt sie auf. Das nachweihnachtliche Geschäft kann beginnen.


Horst und sein Schneemann

© von Heike Greiner 

veröffentlicht im Mitteilungs- und Informationsblatt Bischofsgrün, September 2022

Das Märchen habe ich für den neu gestalteten Märchenwanderweg Bischofsgrün geschrieben. 
Im Frühjahr 2023 wird der neue Märchenwanderweg offiziell eingeweiht. 


Der emanzipierte Weihnachtsmann

© von Heike Greiner 

veröffentlicht in der Bayreuther Sonntagszeitung, Dezember 2021


Die Weihnachtsfee vom Fichtelgebirge 

© von Heike Greiner 

veröffentlicht in der in der Verlagsbeilage „Weihnachten 2017“
der Bayerischen Rundschau, Dezember 2017

 

Als Hans am Heiligabend heimlich einen Baum aus dem Wald stibitzen will, begegnet ihm die Weihnachtsfee Fichteline ...

 

 

„Hans! Willst du nicht endlich einen Baum besorgen? Falls du’s nicht gemerkt hast: Heute ist Heiligabend!“ Bärbel stand in der Badezimmertür, während ihr Mann gerade aus der Dusche stieg. Ärgerlich stemmte sie die Hände in die Hüften.

„Jaaa“, knurrte Hans. „Aber anziehen darf ich mich schon noch, oder?“ 

„Jedes Jahr dasselbe mit dir. Seit Tagen willst du einen Baum besorgen … immer auf den letzten Drücker … Weihnachten kommt ja sooo überraschend … und ich habe wieder Stress, putzen, kochen, den Baum schmücken …“, schimpfend verließ sie das Zimmer.
Genervt schüttelte Hans den Kopf. Hatte sie jemals den Baum geschmückt? Sobald Hans mit dem Baum fertig war, nörgelte sie, wenn nicht jede Glaskugel so hing, wie sie es sich vorstellte. Wie er Weihnachten hasste: Besuche von Eltern, Schwiegereltern, Geschwistern, Neffen, Nichten, dazu rund um die Uhr essen. Der Heiligabend war besonders schlimm: gemeinsames Musizieren, pünktlich um 19 Uhr Bescherung und die üppigen Mahlzeiten, die ihm noch an Silvester im Magen lagen. 

Dazu dieses „heile-Welt-Getue“, nach dem Motto „haben wir uns alle lieb“, auch wenn man seine Verwandten nicht ausstehen konnte – und an Weihnachten schon gar nicht. Während Hans sich anzog, überlegte er, wie schön es wäre, allein zu sein, ohne familiären Anhang. Dann könnte er glückliche Tage verbringen, mit Chips und Bier vor dem Fernseher, auf der Couch lümmeln oder nur am Fenster sitzen und den Schneeflocken zuschauen. Er könnte tun, was er wollte.

Seufzend ging er in den Flur. „Ich bin dann mal weg!“, rief er Bärbel zu, die in der Küche Kartoffelsalat zubereitete. „Wird auch Zeit“, sagte sie. „Und nimm einen schöneren Baum als letztes Jahr, nicht wieder so ein Gerippe.“

„Ja, ja.“ Er zog die Haustür hinter sich zu und trat nach draußen. Es hatte geschneit im Fichtelgebirge, sodass ideale Bedingungen für Wintersportler herrschten. Die Loipen waren gespurt, die Schneekanone an der Ochsenkopf-Piste hatte gute Arbeit geleistet. Es fehlte nur noch blauer Himmel mit Sonnenschein, um die weiße Pracht richtig genießen zu können. Im Moment war es so neblig, dass Hans selbst die Nachbarhäuser nur durch einen grauen Schleier wahrnahm. Ideales Wetter, um einen Baum aus dem Wald zu holen, schoss es ihm durch den Kopf. Der Nebel würde ihm Deckung geben, denn er hatte keine Ahnung, ob und wo es rund um Bischofsgrün erlaubt war, eigenständig Bäume zu fällen. Dazu hätte er sich beim örtlichen Förster informieren müssen.

Bislang war er jedes Jahr zu einer Baumschule gefahren, um für teures Geld eine Nordmanntanne zu kaufen. Heuer würde er sich eine echte Fichtelgebirgsfichte ins Wohnzimmer stellen, selbst geschlagen. Bevor er sich auf den Weg machte, packte er diverse Werkzeuge in seinen Wagen.

Nach kurzer Fahrt bog er oberhalb der Höhenklinik in einen breiten Forstweg und parkte einige hundert Meter von der Straße entfernt. Er nahm einen steilen, quer durch den Wald führenden Pfad, indem er den Schildern „Haberstein – Schneeberg“ folgte. Um diese Zeit und bei dem Wetter würde er hier bestimmt niemandem begegnen.

Es war totenstill. Nur das leise Knirschen des Schnees war bei jedem seiner Schritte zu hören. Der Nebel war hier noch dichter als im Dorf. Kein Lüftchen regte sich. Hinter den grauen Nebelschleiern erkannte Hans schemenhaft die schneebedeckten Fichten. Stumm und bewegungslos verharrten sie, als würden sie ihn beobachten.

Er spürte, wie die Feuchtigkeit in seine Kleidung kroch, und stülpte die Kapuze seines Anoraks über den Kopf. Vielleicht hätte er doch zur Baumschule fahren sollen …

Plötzlich entdeckte er eine prachtvolle Fichte, knapp zwei Meter groß. Ihre dichten Äste schienen sich ihm entgegenzustrecken. Das war er – sein Baum. Er war perfekt, sogar Bärbel würde begeistert sein. Hans war so fasziniert, dass ihm nicht auffiel, dass es weit und breit der einzige Baum war, auf dem kein Schnee lag. Das dunkle satte Grün der Nadeln durchdrang den Nebel. Wie hypnotisiert schritt Hans auf den Baum zu, als würde er magisch angezogen. Als er die wunderschönen Äste berühren wollte, erstrahlte die Fichte in einem hellen Licht. Erschrocken wich Hans zurück.

„Gefällt dir der Baum, Hans?“ ertönte eine helle Stimme.

Hans blickte sich um. „Wer ist da?“

Die Äste der Fichte bewegten sich und eine märchenhaft schöne Gestalt trat hervor. „Ich bin Fichteline, die Weihnachtsfee des Fichtelgebirges.“

Ungläubig starrte Hans das zarte Wesen an. Sie war einen Kopf kleiner als er, schlank und trug ein langes, golden glitzerndes Kleid. Ihr lockiges, braunes Haar reichte ihr bis zur Hüfte. In der rechten Hand hielt sie einen Zauberstab.

„Ich träume“, murmelte Hans und schloss kurz die Augen. Doch als er sie wieder öffnete, war die Fee immer noch da und lächelte ihn an. „Was … was willst du von mir?“, stotterte er.

„An Weihnachten helfe ich Menschen, die verzweifelt sind.“ Sie sprach mit leiser, sanfter Stimme.

„Wie?“ Hans riss die Augen auf. „Und was willst du dann von mir?“

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. „Das fragst du? Ich weiß, du bist sehr verbittert und gestresst. Dein Blutdruck ist viel zu hoch. Du stehst kurz vor einem Herzinfarkt, so sehr regst du dich über Weihnachten auf. Außerdem hast du Streit mit deiner Frau und du brauchst dringend einen Baum, den du sogar stehlen willst.“

„Stehlen!? … Unsinn … es stehen genug Bäume hier herum“, rechtfertigte sich Hans. „Wem fällt schon auf, wenn eine kleine Fichte fehlt? Ich hasse Weihnachten!“

Schlagartig verspürte er starke Schmerzen in der Brust, heftige Unruhe befiel ihn. Keuchend rang er nach Luft, während die Schmerzen heftiger wurden. Ihm brach der kalte Schweiß aus, er bekam panische Angst. „Hilf mir, Fichteline“, flehte er, bevor er ohnmächtig in den Schnee sank.  

Hans befand sich außerhalb seines Körpers und betrachtete aus der Entfernung das Geschehen. Er sah sich selbst in einem verschlissenen Sessel vor dem Fernseher sitzen, bekleidet mit einem zerrissenen Jogginganzug und ausgelatschten Pantoffeln. Die Haare hingen ihm wirr um den Kopf. Sein Bart ließ vermuten, dass er sich tagelang nicht rasiert hatte. Auf dem Tisch lagen zerknitterte Chipstüten und leere Bierflaschen. An den dürren Ästen der Fichte in der hintersten Ecke des Zimmers hingen nur wenige Glaskugeln. Es roch modrig, eine beklemmend-düstere Atmosphäre. Tiefe Traurigkeit und Verzweiflung waren förmlich spürbar. Hier saß ein sehr einsamer Mensch, der niemanden hatte, mit dem er sein Leben teilte und der sich selbst aufgegeben hatte.

Hans wurde schlagartig klar, dass er ein elendes Leben führen würde, wenn er keine Ehefrau, keine Verwandten, kein gemütliches Heim hätte. Mit dem Alleinsein würde er nie zurechtkommen. Er schämte sich sehr dafür, dass er auf seine Familie so wütend gewesen war und sich das Alleinsein gewünscht hatte.  

Allmählich kam Hans wieder zu sich und schlug die Augen auf.

„Na, möchtest du nicht aufstehen?“, erklang Fichtelines sanfte Stimme. Lächelnd blickte sie auf ihn herab.

„Was ist passiert?“, murmelte Hans, als er sich langsam erhob und den Schnee aus seiner Kleidung klopfte.

„Das wirst du bald verstehen. Mach dich jetzt auf den Heimweg. Wenn du daheim ankommst, wird diese wunderschöne Fichte prachtvoll dekoriert im Wohnzimmer stehen. Deine Frau wird glauben, dass DU den Baum besorgt und geschmückt hast.“

Die Fee berührte mit ihrem Zauberstab die Fichte und war eine Sekunde später gemeinsam mit dem Baum verschwunden. 

Verwirrt und nachdenklich kam Hans nach Hause. Im Wohnzimmer lief ihm Bärbel freudestrahlend entgegen. „Schatz, das ist der wunderbarste Weihnachtsbaum, den wir je hatten!“

Dieses Weihnachten wurde das schönste, das Hans je erlebt hatte. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, das gemeinsame Singen machte Riesenspaß. Über allem erstrahlte die Fichte in einem goldenen Lichterglanz. Mit den Verwandten verbrachte Hans harmonische Stunden.

Jetzt verspürte er tiefe Dankbarkeit. Er war dankbar für sein glückliches Leben und dafür, dass er im Kreise einer wunderbaren Familie in Frieden Weihnachten feiern konnte. 

„Danke, Fichteline“, flüsterte er.

„War hast du gesagt?“, wollte Bärbel wissen. 

 „Ach, nichts.“ Lächelnd nahm er sie in die Arme. „Frohe Weihnachten!“


Der kleine Weihnachtsgeist

© von Heike Greiner 

veröffentlicht in der Verlagsbeilage „Weihnachtsrätsel“
der Pegnitz-Zeitung, Lauf an der Pegnitz,
November 2014

 

Ein kleiner Geist hat keine Lust mehr, an Halloween Leute zu erschrecken. Weihnachten findet er viel interessanter ...

 

 

Es ist bitterkalt. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Die Schornsteine der weihnachtlich geschmückten Häuser rauchen, denn drinnen wird geheizt, damit es kuschelig warm ist. Heute ist der erste Advent. Die Menschen sitzen in ihren Zimmern, trinken Tee und essen Plätzchen und Stollen. Diesen Sonntagnachmittag verbringen die meisten zu Hause, um in gemütlicher Runde die erste Kerze am Adventskranz anzuzünden. An vielen Fenstern sind Lichterketten in Form von Sternen oder Rentieren befestigt. Wenn es zu dieser Jahreszeit gegen 16 Uhr dunkel ist, erstrahlen die Lichterketten in hellem Glanz. Draußen in der Kälte ist niemand zu sehen. Nur ab und zu fährt ein Auto die Straße entlang. 

Plötzlich bewegt sich etwas unter der Kiefer, die im Garten von Familie Schulze steht. Äste und Nadeln des Baumes sind mit Schnee bedeckt. Da! Wieder eine Bewegung! Die Äste zittern. Ein Teil des Pulverschnees fällt von den Zweigen auf den Boden. 

Auf einmal schiebt eine kleine weiße Hand einen dünnen Ast zur Seite. Die Hand ist so weiß wie der Schnee. Nur auf den grünen Zweigen, die jetzt vom Schnee befreit sind, ist sie deutlich zu sehen. Kurz danach taucht eine zweite Hand auf. Schließlich spitzt ein Gesicht unter dem Baum hervor. Das Gesicht ist ebenfalls schneeweiß. Zwei runde schwarze Augen blicken sich um, bevor auch der weiße Körper erscheint. Die Gestalt ist nicht größer als ein Gartenzwerg. Suchend schaut sie sich um, macht ein paar Schritte und hinterlässt winzige Fußspuren im Schnee. 

In unmittelbarer Nähe befindet sich das Haus von Familie Schulze. Unentschlossen bleibt das kleine Wesen stehen. Es schaut abwechselnd zum Haus und zur Kiefer. Es scheint zu überlegen, ob es zu seinem Versteck unter dem Baum zurückkehren soll. 

Plötzlich öffnet sich die Haustür und ein Mädchen mit rotem Anorak und einer Zipfelmütze läuft in den Garten. Dicht hinter ihr folgt schwanzwedelnd ein Dackel. 

„Komm, Waldi“,  ruft Katrin. Wir gehen Gassi. Komm. Sie hält eine Hundeleine in der Hand und lockt den Hund zu sich. Aber Waldi hat etwas entdeckt, das er viel interessanter findet als die Rufe des Kindes. Er rennt geradewegs auf die Kiefer zu, bleibt vor dem Baum stehen und beginnt zu bellen. 

„Waldi, komm her. Was ist denn los?“ Die Stimme des zehnjährigen Mädchens klingt ärgerlich. Waldi!“ 

Aber Waldi denkt gar nicht daran zu gehorchen. Stattdessen beschnüffelt er den Boden und wedelt dabei aufgeregt mit dem Schwanz. 

Wenn du nicht herkommst, muss ich dich holen“, sagt Katrin und nähert sich dem Dackel. Als sie ihn erreicht hat, sieht sie, weshalb der Hund so aufgeregt ist. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie auf den Schnee, wo ein kleines weißes Wesen steht und am ganzen Körper zittert. Es scheint sich vor Waldi zu fürchten. 

„Waldi! Aus!“ Katrin packt den Hund am Halsband. Sitz, Waldi! Sitz!

Endlich gehorcht der Dackel. Während er von der seltsamen Gestalt zu seinem Frauchen emporblickt, setzt er sich brav hin und ist still. Dann geht Katrin in die Hocke, um das kleine Wesen aus der Nähe zu betrachten. 

„Du brauchst keine Angst zu haben“, flüstert sie und mustert die Gestalt. Wer bist du?

Noch ein wenig verängstigt schaut das Wesen Katrin an.  Mein Name ist Hawist. Und wie heißt du? 

Ich bin Katrin. So ein kleines Wesen wie dich habe ich noch nie gesehen“, staunt das Mädchen. Mit einem lauten Wau-Wau pflichtet Waldi ihr bei. 

„Pst, still, Waldi, sonst erschreckst du Hawist wieder", ermahnt sie den Hund, bevor sie sich wieder Hawist zuwendet. Was machst du in unserem Garten?

Ich verstecke mich hier.

Wovor denn?“, will Katrin wissen. 

Da beginnt Hawist zu schluchzen, dicke Tränen kullern über seine weißen Wangen. Vor den Menschen. Ich bin nämlich ein Halloweengeist und dürfte jetzt gar nicht hier sein. Verstehst du?

Katrin sieht ihn mit großen Augen an und schüttelt den Kopf. Nein. Was ist ein Halloweengeist?

Halloweengeister sind normalerweise für euch Menschen unsichtbar“, erklärt Hawist und schnieft. Nur in der Halloweennacht könnt ihr uns sehen. An Halloween haben wir die Aufgabe zu spuken und euch zu erschrecken. Kennst du Halloween?

Na klar. Halloween ist immer am 31. Oktober. Dieses Jahr habe ich mit meinen Freunden Kürbisse ausgehöhlt und in die Kürbisse Gesichter geschnitzt. Wir haben Kerzen hineingestellt und die Kürbisse im Garten aufgestellt. Das sah wirklich gruselig aus.“ Katrin gerät regelrecht ins Schwärmen. „Dann haben wir uns schauerliche Kostüme angezogen und bei den Nachbarn geklingelt. Mit dem Spruch Süßes oder Saures“ haben wir Süßigkeiten ergattert. Das war cool. Meine beste Freundin war als Geist verkleidet. Aber ich wusste nicht, dass es echte Halloweengeister gibt.“ 

„Doch, die gibt es. Ich bin einer von Ihnen“, sagt Hawist traurig. 

Das ist toll!“ Katrin strahlt vor Begeisterung. Du kannst immer spuken und Leute erschrecken. Aber ...“ Nachdenklich runzelt das Mädchen die Stirn. Aber nun ist bald Weihnachten und nicht Halloween. Was machst du denn jetzt hier?

Da ich kein Halloweengeist mehr sein will, hat mich meine Geisterfamilie nach der Halloweennacht zurückgelassen. Meine Verwandten sagten, dass ich zur Strafe so lange sichtbar bleibe, bis ich wieder vernünftig geworden bin.“ Erneut kullert eine dicke Träne über Hawists Wange und tropft in den Schnee. Doch die Träne ist viel zu klein, um dort eine Spur zu hinterlassen. 

Du Armer.“ Katrin hat Mitleid mit dem kleinen Wesen. Aber warum willst du kein Halloweengeist sein? Es ist doch lustig, Leute zu erschrecken“, meint sie grinsend. 

Nein, es ist eben gar nicht komisch!“, ruft Hawist, während er sich mit dem Handrücken die Tränen abwischt. 

Wie zur Bestätigung lässt Dackel Waldi ein Wau-Wau ertönen. Der Hund sitzt noch immer im Schnee und starrt die weiße Gestalt an. 

Hawist schüttelt den Kopf. Nein, es ist furchtbar. Denn niemand erschrickt vor mir, weil ich zu klein bin. Die meisten Menschen nehmen mich nicht einmal wahr. Kannst du dir vorstellen, wie furchtbar es ist, wenn man jemanden erschrecken will und dabei entweder völlig übersehen oder ausgelacht wird?

Zustimmend nickt Katrin. Hm, das ist sicher nicht schön.

„Siehst du, deshalb möchte ich kein Halloweengeist mehr sein, sondern ein Weihnachtsgeist werden.

Es gibt keine Weihnachtsgeister“, stellt Katrin fest. 

Das macht nichts. Dann bin ich eben der erste und einzige Weihnachtsgeist.“ Auf einmal huscht ein Lächeln über Hawists Gesicht. 

Tja, als Weihnachtsgeist wärst du etwas ganz Besonderes“, überlegt das Mädchen. Allerdings brauchst du eine andere Aufgabe. Oder willst du als Weihnachtsgeist auch Leute erschrecken? Das würde nämlich gar nicht passen, denn an Weihnachten wird niemand erschreckt. Weihnachten ist ein freudiges Fest. Es gibt leckeres Essen, Süßigkeiten, Plätzchen, wir basteln Weihnachtsschmuck ... und am Heiligabend bringt das Christkind Geschenke.

Ich glaube, ich habe eine Idee.“ Die Traurigkeit ist plötzlich aus Hawists Gesicht verschwunden. Seine dunklen Augen funkeln unternehmungslustig. Übermütig stupst er Dackel Waldi an, der überrascht zurückweicht. Eine gute Idee!

Sag schon!“, drängt Katrin.

Jedes Jahr zu Weihnachten möchte ich Kindern eine Freude machen. Ich werde mit ihnen spielen, sie unterhalten, mit ihnen herumtollen und lachen. Und sollte mal ein Kind traurig sein, werde ich es trösten und aufheitern. Na, Katrin, was hältst du von meiner Idee?

Super! Das ist viel besser, als an Halloween Leute zu erschrecken und ihnen Angst einzujagen.

Waldi springt auf, wedelt mit dem Schwanz und pflichtet seinem Frauchen bellend bei. Hawist und Katrin lachen aus vollem Halse. 

Ich habe auch einen Vorschlag“, meint das Mädchen. Du kannst bei mir wohnen, wenn du willst. Doch davon darf niemand erfahren. Das bleibt unser Geheimnis. Einverstanden?

Einverstanden“, nickt Hawist.

Komm mit, ich zeige dir mein Zimmer.“ Katrin hält dem kleinen Wesen ihre Hand hin, damit es hinaufsteigen kann. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zum Haus, während Waldi um sie herumspringt und freudig bellt.

So wird aus dem unglücklichen Halloweengeist ein fröhlicher Weihnachtsgeist. Solltet ihr in der Weihnachtszeit eine zwergengroße, weiße Gestalt sehen, dann wisst ihr: Es ist Hawist.